Der Bundesgerichtshof (BGH) hat gestern ein Urteil gefällt, das
einige Gerechtigkeitsfragen aufwirft. Knapp soviel: Wer sich mit seinen
Eltern überwirft oder von diesen missachtet und enterbt wird, muss
trotzdem im Alter Unterhalt für sie zahlen. So das Urteil. Außer, die
Eltern haben sich zu Kinderzeiten – also vor Eintritt der Volljährigkeit
schwerer Verfehlungen schuldig gemacht. Hier ein Artikel von mir dazu
gestern bei Welt Online, warum das Urteil mit Blick auf die Gesetzeslage zu erwarten war. Und hier noch der Bericht über Urteil und Fallkonstellation. Das BGH-Urteil zur Übernahme der Pflegekosten von Eltern ist logisch mit Blick auf das Gesetz, das die Richter ja immer anwenden müssen. Aber wäre es nicht eigentlich ein Fall für das Verfassungsgericht?
Der Reihe: Auch wer individuell von seiner Familie getrennte Wege
geht, bleibt mit seinen Angehörigen verbunden. Denn laut Gesetz hat die
Familie also soziale Auffanginstitution immer Vorrang vor dem
Sozialsystem, legt das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) fest. Das mag
vielleicht nicht zu einer Gesellschaft passen, die sich als zunehmend
individualisiert zumindest empfindet – aber das macht es noch nicht
falsch.
Gesetze und auch Gerichte hinken der gesellschaftlichen Entwicklung
immer hinterher. So hat es der BGH mal als grobe Verfehlung eingestuft,
dass eine Mutter ihr Kind im Alter von einem Jahr den Großeltern
überantwortet hat – in einer Zeit, in der das beinah schon als sozialer
Alltag gelten kann. Dagegen sah es der oberste Gerichtshof im gestern
beurteilten Fall nicht als grobe Verfehlung des Vaters an, dass er nicht
nur von seinem guten Recht Gebrauch gemacht hat, seinem Kind das Erbe
bis auf den Pflichtteil zu entziehen, sondern dass er offensichtlich
dazu noch vorhandene Vermögenswerte nicht für die eigenen Pflegekosten
und den eigenen Lebensunterhalt verwendet hat – was er laut
Sozialgesetzgebung gemusst hätte –, sondern dem Zugriff des Sozialamts
entzogen und einer Freundin vermacht hat.
Sprich: Das Gericht – und zuvor das Amt – nimmt also nicht die vom
Vater begünstigte Erbin in die Pflicht, sondern den Sohn, wegen der
familiären Unterhaltspflicht. Genau mit Blick darauf kritisiert denn
auch Josef Linsler, Vorsitzender des Interessenverbands Unterhalt und
Familienrecht (ISUV) das Urteil. Er hält es für grob unsolidarisch. „Der
Vater enterbt den Sohn, die Bekannte erbt und der Sohn „erbt“ die
Unterhaltsschulden“, resümmiert der ISUV-Vorsitzende Josef Linsler. „Der
BGH hat eine Chance verpasst, ein gesellschaftlich wichtiges Signal zu
setzen“, findet Linsler. Er spricht sich dafür aus, den Erben in die
Pflicht zu nehmen, mit dem sich der Erblasser solidarisiert hat.
Das allein erklärt aber noch nicht die menschliche Aufregung.
Die Richter haben gestern einen Mann verurteilt – selber bereits
Pensionär –, der offenbar nicht nur 40 Jahre keinen Kontakt zum Vater
gehabt hatte, sondern dazu noch auf offensichtlich verletzende Weise von
diesem behandelt worden ist. Im Erwachsenenalter zwar erst – deshalb
war das Urteil auch folgerichtig und nicht anders zu erwarten. Die
Anwältin des Sohns Brunhilde Ackermann hat das Urteil als menschliche
Tragödie bezeichnet. Und selbst die BGH-Richter haben sich ganz
offensichtlich schwer mit dem Urteil getan. Darüber haben sie Berichten
zufolge in der öffentlichen Verhandlung sogar gesprochen.
Ich frage mich: Hätten die Richter nicht gute Gründe gehabt, den Fall an das Bundesverfassungsgericht weiterzureichen?
Sowas kommt ja vor. Ich bin keine Juristin, aber interessiere mich.
Und weiß: Das BGB ist gesetzliche Grundlage für vieles, auch Fragen des
Unterhalts. Aber unter dem BGB drunter gleichermaßen liegt die
Verfassung. Das Grundgesetz. Und in dem Fall müssten doch eigentlich
zwei verfassungsrechtliche Werte berührt sein. Oder sehe ich das falsch?
Daher auch die Aufregung: Der eine Wert ist unter den Tisch gefallen.
Einerseits ist da der Schutz und die besondere Stellung der Familie,
die natürlich umgekehrt auch sozial verpflichtet und dem das BGB mit
dem unbedingten Vorrang vor Sozialleistungen Rechnung trägt – was
grundsätzlich richtig und gut ist. Nebenbei bemerkt zählt am Ende ja
dann auch die Zahlungsfähigkeit der Unterhaltspflichtigen und gibt es
weitreichende Schonregelungen, die dafür sorgen, dass Betroffene nicht
ihren Lebensstandard einbüßen müssen – dazu am Montag mehr in der Welt
und bei Welt Online.
Auf der anderen Seite steht da noch die Würde des Menschen
im Raum, geregelt durch Artikel 1 GG. Die zu schützen Aufgabe aller
staatlichen Gewalt ist. Und zu der gehören Richter und Ämter dazu. – Wie
weit ist es mit der her in diesem Fall? Nicht sehr weit, würde ich
sagen und selbst die Richter hatten ja ihre Zweifel.
Nun ist natürlich die Frage, warum die Allgemeinheit zahlen soll,
wenn doch zahlungsfähige Angehörige da sind. Aber die Allgemeinheit
zahlt ja auch anstandslos für Kinderlose oder Eltern mit wenig
zahlungskräftigem Nachwuchs. Warum also nicht auch für solche, deren
persönliche Beziehungen zutiefst gestört sind – wenn sonst deren Würde
verletzt wird. Im Grundgesetz steht die Würde des Menschen an erster
Stelle.
In dem Punkt sendet das Urteil auch in Richtung Familien eine
verfassungsrechtlich durchaus fragwürdige Botschaft. Diese lautet: Wenn
Du Kinder bekommst oder hast, weißt Du schon jetzt: Mit Blick auf die
unterfinanzierte Pflegeversicherung werden dereinst mal die eigenen
Kinder – so sie gut genug verdienen – nicht nur für einen selbst
mitzahlen und das wahrscheinlich zeitgleich für die Enkel mit – so geht
es vielen Angehörigen der so genannten Sandwich-Generation zwischen 40
und 60 –, sondern dazu noch für kinderlose Pflegebedürftige. Bei denen
sich naturgemäß kein Unterhaltspflichtiger findet. Was geht, wird für
die Pflege abgezogen. Und zwar wenn nach Steuern und Sozialabgaben – für
die auch kinderlose Allgemeinheit – noch etwas für die Eltern
übrigbleibt, dann für sie selbst.
Und das, wo Experten schon die Besteuerung von Familien für
verfassungswidrig halten, der Vorsitzende des Landesssozialgerichts
Darmstadt, Jürgen Borchert, ist einer davon. Familien gelten
Alleinstehenden gegenüber nicht grundlos als sozialrechtlich und
steuerlich benachteiligt – Extrapunkte bei der Rentenversicherung hin
oder her.
Hinzu kommt: Man kann der Kontrollwut beim Explodieren zusehen. Und
damit geht es weg von juristischen hin zu ökonomischen Fragen.
Die seit vielen Monaten in der Debatte präsenten Steuer-CDs sind das
eine. Der immer leichtere Zugriff auf Bank-, Renten- und
Versicherungsdaten. Und nun noch der schon durch die erwartungsgemäß
weiter wachsende schiere Zahl pflegebedürftiger Alter. Samt dem immer
größeren Kontrollapparat, der nötig ist für die naturgemäß auch immer
zahlreicheren Fälle, in denen Sozialämter für Pflegekosten einspringen
müssen – und erst einmal die Verhältnisse sichten, Ansprüche klären und
schließlich auch geltend machen und letztlich exekutieren müssen.
Notfalls bis zum obersten Gericht und dem Gerichtsvollzieher des
Amtsgerichts, der dann vielleicht pfändet, wenn es etwas gibt.
Wer jetzt noch nicht mit dem bislang eher verrufenen, aber von vielen seriösen Experten für gut befundenen System des bedingungslosen Grundeinkommens
sympathisiert, den könnte das zum Nachdenken bringen. Nicht wenige
seriöse Ökonomen erörtern ja ernsthaft die Vorteile dieses Systems.
Natürlich gibt es den berühmt-berüchtigten Gratis-Lunch nicht. Aber man
könnte ja auch mal die Kosten für das allen zur Verfügung gestellte
Einkommen dem dafür eingesparten immensen Kontrollaufwand
gegenüberstellen, der für das jetzige Sozialsystem notwendig ist.
Das Argument jedenfalls, ein Grundeinkommen sei zu teuer, dürfte
gegenüber den Realitäten verblassen. Und dass es nicht zu Leistung
anreizt, glaube ich nicht. Dinge werden sich sicher verändern –
vielleicht ja auch zum Guten, wenn nämlich die Menschen dank finanziell
größerer Freiheit machen können, woran ihr Herz hängt. Wahrscheinlich
gäbe es dann noch mehr der jetzt und in Zukunft noch mehr benötigten
Ehrenamtler. Wäre ja auch was.
Wie die Lösung dann konkret aussähe, das sollten die Experten aber
auf jeden Fall europaweit ausklügeln. Das muss schon sein, sonst gibt es
wieder neue Probleme, das zeigen ja auch aktuelle Diskussionen wie die
um – Unwort des Jahres: Sozialtourismus beispielsweise.