Echtzeitwelt

wissen Sie, wie von vorgestern das ist, was Sie und ich hier gerade tun? Ich sitze am Computer und schreibe etwas auf. Und Sie sitzen da und lesen es vom PC-Monitor ab.

Damit meine ich jetzt nicht, dass ich meinem Computer auch etwas diktieren könnte. Oder dass Sie genauso gut ins Handy- oder iPad-Display gucken könnten. Sondern dass Journalisten heute längst direkt für Computer schreiben, statt für Menschen. Zumindest bei der Wirtschafts- und Finanznachrichtenagentur Reuters. Das stand in einem Artikel, den ich vor einiger Zeit mal gelesen habe – im Wirtschaftsmagazin brand eins, Ausgabe 3/2008. (Der Artikel „In der Echtzeitwelt“ fiel mir wieder ein, als ich Ihnen vor ein paar Tagen aufgeschrieben habe, was Reuters zum neuen Roman von John Le Carré meint. Hier entlang)

Der Artikel handelte davon, was Reuters noch so herstellt. Nicht mehr nur normale Wirtschaftsnachrichten, sondern Hochgeschwindigkeitsinfos, die praktisch in dem Moment, in dem sie geschehen, schon als Leuchtschrift an einem Hochhaus entlangflimmern. Und die binnen Millisekunden Börsenkurse beeinflussen.

Weil keine Menschen zwischengeschaltet sind. Sondern Computer.

Reuters schult Journalisten darin, Nachrichten so zu verfassen, dass Handelscomputer selbsttätig Verkaufs- oder Kaufaktionen aus der enthaltenen Info machen können. Auch wieder logisch, wenn Sie sich mal vor Augen führen, dass bei marktrelevanten Infos schon immer der Zeitvorsprung mit für Gewinnvorsprung gesorgt hat. Erst reichten wenige Tage Wissensvorsprung, dann Stunden oder Minuten. Mittlerweile geht es um Sekunden und Millisekunden.

Mal abgesehen davon, dass das zu Phänomenen wie dem Flash Crash vor ein paar Monaten führt – dem unerklärlichen Blitzeinbruch der Aktienkurse an der New Yorker Börse im März –, betreten wir hier das Reich des Phantastischen.

Räume ohne Zeit. Sowas gibt es.

Davon habe ich vor nun gut zehn Jahren mal auf einer Ausstellung des Kölner Stadtmuseums erfahren („Wie Zeit vergeht“), über die ich damals für den Lokalteil der Kölnischen Rundschau berichten sollte. In dem Buch zur Ausstellung stand ein Bericht über den Kölner Physikprofessor Günther Nimtz, der einen Raum ohne Zeit in einer kleinen Glasröhre hergestellt hatte („eines der aufsehenerregendsten Experimente der physikalischen Grundlagenforschung“). Das Tunnelexperiment funktionierte so: Nimtz und sein Team schickten Signale in mehrfacher Lichtgeschwindigkeit in ein verengtes Glasröhrchen. Die Signale brauchten immer: null Zeit – egal wie lang das Tunnelröhrchen war. Und nicht nur das: Signale von Radiowellen der 40. Sinfonie von Wolfgang Amadeus Mozart in g-Moll kamen sogar an, bevor sie überhaupt losgeschickt worden waren. Verrückt.

Wer weiß, vielleicht nutzen sie die Technik ja längst – ist ja schon ein paar Jahre her. Falls nicht, könnte Reuters sich ja mal an Professor Nimtz an der Kölner Uni wenden. Vielleicht empfangen die Handelscomputer Nachrichten dann ja schon bald, bevor der Redakteur – puh: selbst in der Echtzeitwelt scheint der nicht so leicht ersetzbar – sie veröffentlicht hat.

Das wär doch was, finden Sie nicht auch?

aus: Newsletter Steuern und Bilanzierung bei BWRMed!a vom 30.09.2010, Archiv: http://www.bwr-media.de/newsletter/sub/archiv.html